Rihm war so unglaublich talentiert, dass manch weniger Talentierte es fast schon als Provokation empfunden hätten – wenn er dies nicht durch eine sanguinische und dionysische Persönlichkeit, die sofort sympathisch war, ausgeglichen hätte. Es gelang ihm immer, dass man es ihm von Herzen gönnte, im Mittelpunkt zu sein. Denn er war begeisterungsfähig für die Leistungen anderer, großzügig und anerkennend, sowie ein inspirierender Kompositionslehrer.
Unerlässlich flossen Werke aus seiner Feder – er komponierte immer und überall: bei GEMA-Versammlungen, beim Anhören von Konzerten von Kollegen, im Zug, sogar im Krankenbett. Umso erstaunlicher, dass diese Schaffenskraft nicht von verhärmter Selbstdisziplin bestimmt war, sondern von purer Lust am Erfinden. Diese konnte von der Lektüre eines Buches wie auch vom Benutzen eines schönen Füllers angeregt werden. Noten schienen eine natürliche Erweiterung seiner Person zu sein, Tagebuch und künstlerische Behauptung zugleich. Seine Werke wurden nie durch Schlussstriche abgeschlossen, stattdessen sind sie Teil eines unerschöpflich scheinenden musikalischen Kosmos, der in alle Richtungen wuchern konnte und sich dabei gegenseitig durchdrang. Dass er dabei alle musikalischen Genres mit gleicher Virtuosität beherrschte, war selbstverständlich. Sein Oeuvre weist von Kammermusik, Orchestermusik, Vokalmusik bis hin zum Musiktheater Meilensteine auf, die stets in den Konzertsälen präsent waren, und dies auch bleiben werden.
Dabei schien ihm alles immer auf unheimliche Weise leicht zu fallen – er verschloss sich nie lange verquält in seinem Studierzimmer, sondern schlenderte auch über den Markt in seinem geliebten Karlsruhe, auf der Suche nach Kochzutaten. Oder er las im Feuilleton einer Zeitung auf seinem Balkon, dabei eine Zigarre rauchend. In dieser Hinsicht war er eine Mischung aus Mozart und Rossini, von der Arbeit nie versklavt, und dennoch erstaunlich produktiv.
Besonders hervorzuheben ist seine Rolle als Ermöglicher für die eigene wie auch die nachfolgenden Generationen. Mit großer Eloquenz und intellektueller Macht konnte er Dogmen der Avantgarde quasi von innen heraus überwinden und wie selbstverständlich eine „neue Innerlichkeit“ formulieren, ohne dabei jemals als Verräter an alten und liebgewordenen Idealen zu wirken. Man akzeptierte seine einzigartige Individualität – weil man an ihm nicht vorbeikam, schon rein physisch nicht.
Damit bereitete er den Weg für viele andere, machte Mut und entdeckte Kollegen neu, die als Außenseiter galten (zum Beispiel Wilhelm Killmayer). Sein Herz schlug dabei stets für das Ungewöhnliche, Besondere und Unkonventionelle. Seine Neugier war unerschöpflich und mündete in Begeisterung für alle künstlerischen Genres, vor allem, wenn sie dem absurden Theater nahestanden, das er über alles liebte. Man konnte daher mit ihm gleichermaßen über Karl Valentin wie Nietzsche, über Laurel und Hardy wie Adorno reden.
Als Gesprächspartner in möglichst kleiner Runde bei stets langen ausufernden Abendessen lief Rihm zu Hochform auf – es war ihm in gewisser Weise unmöglich, einen einzigen uninteressanten Satz zu sagen. Es war immer ein großes Glück, ihn in Hochform zu erleben, und man fühlte sich stets von seinen klugen Worten und seiner Präsenz noch Tage danach beseelt und inspiriert.
Dass er jetzt nicht mehr unter uns ist, stellt einen unermesslichen Verlust dar. Saß man selbst beim Komponieren und kam nicht weiter, konnte allein schon der Gedanke an ihn („Was würde Wolfgang machen?“) jegliche Blockade überwinden.
In den letzten Jahren war Rihm durch Krankheit gefordert und zwangsläufig weniger produktiv, als man es von ihm kannte. Seine grundsätzliche Ausstrahlung der Positivität und Energie verlor er jedoch nie, und man wünschte ihm von Herzen, dass er sich wieder erholen möge. Leider kam es nicht mehr dazu.
Er hinterlässt nun eine Fehlstelle, die vielleicht noch viel größer sein wird, als wir es jetzt schon ahnen. Man hat tatsächlich das Gefühl, dass mit ihm auch eine Ära zu Ende geht, da er eine einhellige gesellschaftliche Bewunderung als „komponierendes Genie“ erleben durfte, deren Fortbestehen in einer Zeit von KIs und aufkommendem kunstfeindlichen Populismus zunehmend ungewiss scheint. Seine Gedanken zu diesen Entwicklungen hätten uns vielleicht Mut machen können, nun ist er verstummt.
Der Deutsche Komponist:innenverband trauert um sein langjähriges Ehrenmitglied Wolfgang Rihm.
Wir werden sein Andenken in Ehrfurcht, Liebe und tiefer Verbundenheit bewahren.
Moritz Eggert
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